Im Namen der Mitmenschlichkeit (Teil 1)
Wenn sich europäische und asiatische Ansichten treffen
Wenn wir die aktuellen Nachrichten und Kommentare zum Flüchtlingsstrom hören, dann ist öfters von Mitmenschlichkeit die Rede. Im Namen der Mitmenschlichkeit müsste man doch etwas tun. Das Gebot der Mitmenschlichkeit verlangt, dass … Zwischendrin habe ich mich gefragt, was diese Reporter dann mit Mitmenschlichkeit meinen.
Ich wage zu behaupten, dass sie alle von einem hohen Stellenwert des Menschen ausgehen und sich bewusst sind, dass eine Solidarität unter Menschen die Grundlage bildet, dass auch mit dem eigenen Leben in einer Notlage sorgsam umgegangen wird, ja, es sogar gerettet wird. Der Wert des menschlichen Lebens wird hochgehalten. Schliesslich ist das sogar in der Verfassung Deutschlands, dem Grundgesetz, festgeschrieben: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Artikel 1,1)
Woher das kommt, wissen nur noch wenige. Wir werden uns noch an anderer Stelle damit befassen. Heute soll es um die vielbeschworene Mitmenschlichkeit gehen. Ich selbst bin damit aufgewachsen, dass ich dem anderen Menschen helfe oder etwas gebe, einfach so. Ich erwarte nichts zurück. Allein, dass ich helfen kann, gehört zu meinem eigenen Menschsein, ja, ist sogar die Pflicht im gesellschaftlichen Miteinander. Ich wurde gelehrt, meine Umgebung wahrzunehmen – und einer alten Frau über die Strasse zu helfen. Heute nehme ich oft ein Kind auf dem Schulweg an der Hand – einfach so. Kurze Begegnungen, oft ohne Worte, kleine Handreichungen, Aufmerksamkeiten am Rande des hektischen Alltags. Möglichkeiten gibt es genügend, Tag für Tag.
Ich kam nach Asien und habe den guten alten Meister Konfuzius studiert. Auch er redet von Mitmenschlichkeit. Das chinesische Wort dafür ist „ren“. In seinem Hauptwerk „Gespräche“ (Lunyu) wird das Wort 109mal erwähnt. Es ist die wahre menschliche Tugend. Konfuzius schätzt sie als das Höchste. Es ist kein abstrakter moralischer Wert, sondern eine bestimmte Qualität des Verhaltens zwischen den Menschen. Im Westen wird der Begriff „ren“ unterschiedlich übersetzt: Menschenliebe, Menschlichkeit, Humanitas, oder Englisch: benevolence oder goodness. Bereits vor Konfuzius drückte der Begriff die Güte eines Menschen aus. Nach dieser Tugend regulieren seither die Chinesen bewusst oder unbewusst die Beziehungen zwischen den Menschen. Mit dieser Betonung wurde die Wende vom Geisterglauben hin zum chinesischen Humanismus vollzogen. Das war ungefähr 500 Jahre v. Chr. Es ist die Einführung eines neuen Verhaltens, damit der Mensch in Harmonie zusammenleben kann – nach Jahrhunderten der Kriege in Ostasien.
Wie in ganz Asien werden Begriffe nicht streng definiert, sondern eher umschrieben und in Geschichten eingehüllt. „Ren“ ist ein Ziel, das der Edle im Sinn des Konfuzius lebenslang anzustreben hat, aber bei selbstkritischer Prüfung immer wieder verfehlt. Es ist kein einmal zu erreichender Zustand, sondern muss in konkreten Situationen immer wieder neu hergestellt bzw. erworben werden, es ist also ein lebenslanger Prozess des Menschlichwerdens. Die Mitmenschlichkeit wird durch Freundschaft gestärkt. Es ist die Eigenart des Menschen, in seiner Verbundenheit mit den Verwandten, dass „ren“ ihre höchste Entwicklung erfährt. Mitmenschlichkeit wird als Selbstperfektion definiert. Ohne diese Selbstperfektion ist Mitmenschlichkeit im weitesten Sinne nicht erreichbar. Schließlich braucht jede wahre moralische Perfektion die Beziehung zum Mitmenschen. Mitmenschlichkeit ist etwas, das in uns wächst.
Damit wären wohl auch die neuen alten Erziehungsziele vorgegeben. Mitmenschlichkeit scheint nicht angeboren zu sein. Es gilt, die eigene Mitmenschlichkeit zu entwickeln und zu fördern. Weiteren Aspekten werden wir uns in einem zweiten Teil widmen.
Bleib dran!
Elke Pfitzer