Leben wie im Märchen
Wie stellen wir uns die Zukunft vor?
Mitteleuropa steht mit der Religion eher auf Kriegsfuss. Sie wird verantwortlich gemacht für die Bauernkriege zur Zeit der Reformation. Für die Glaubenskriege zwischen katholisch und evangelisch ein Jahrhundert später und dann setzte Karl Marx zur Zeit der Industriellen Revolution noch eines drauf: Religion ist Opium fürs Volk und sowieso Schuld an der grossen Misere der Arbeiterschaft, die sich im 19. Jahrhundert aus landflüchtigen Bauernkinder zusammensetzte, die um ihr Überleben bangten. So ungefähr haben wir es zumindest in der Schule gelernt. Falls unsere Eltern uns angeleitet haben, sonntags zur Kirche zu gehen, kam diese Übung eher fremdartig vor. Naja, gewisse Formen, Kleidung und Wortwahl in Gottesdiensten scheint ja auch von „damals“ zu sein. Wir haben gelernt, dass das öffentliche Leben sicherlich nichts mit Religion zu tun hat und sind stolz darauf.
Allerdings ist unübersehbar, dass wir in unserer globalen Welt wieder vermehrt mit Religion in Berührung kommen. Und genau das, stellt unser öffentliches Leben und damit auch uns als Individuen in Frage. Ist die säkulare Gesellschaft ein Märchen? Leben wir im deutschsprachigen Raum in einer Traumwelt? Müssten wir uns tatsächlich wieder mit Religion und Glaube auseinandersetzen? Hat uns nicht der technische Fortschritt und die naturwissenschaftliche Forschung so viel mehr weitergebracht als aller Aberglaube im Mittelalter?
Sämtliche Einwände sind korrekt und sehr verständlich. Deshalb sind alle Ausländer in unseren Breitengraden immer eine Frage an unseren eigenen Lebensentwurf und an unsere Zukunftsperspektive. Wie wird das später einmal? Nicht nur hinsichtlich der Rente oder der Sicherheit auf der Strasse. Wie stellen wir uns das Leben in zwanzig oder dreissig Jahren vor? Ich weiss, schwarzmalende Zukunftspropheten schreiben bereits darüber, aber es geht hier nicht um Angstmache, sondern um eine positive Gestaltung des Lebens, damit wir nicht eines Tages völlig überrascht aufwachen, wie sich unsere Umgebung verändert hat.
Wir haben geglaubt, dass wenn wir unsere Gesellschaft auf Verfassungen stellen und das Gesetz über dem Menschen und den Regierenden steht, der politischen Willkür aller Jahrhunderte davor und danach ein Riegel vorgeschoben wird. Und tatsächlich ist das auch so. Wir leben in einem Rechtsstaat und das ist auch der Grund, weshalb so viele religiös und politisch Verfolgte zu uns nach Europa kommen. Eigentlich wollte man nach dem Zweiten Weltkrieg überall Religions- und Meinungsfreiheit etablieren und sicherstellen, damit nirgendwo andere totalitäre Herrscher die Welt in Brand setzen. Die Absicht war gut. Allerdings ist Papier geduldig und in der Realität wurden diese Freiheiten im Zuge des Selbstbestimmungsrechtes für das jeweils eigene Land ausgelegt. Deshalb die heutige Weltrealität.
Trotzdem bleibt die Frage, ob uns ein Lebensentwurf jenseits von Religion innerhalb der Gesellschaft gelingt, beziehungsweise, ob er in den nächsten Jahren noch irgendwie Bestand haben kann. Seit diesem Jahrhundert leben zunehmend weniger Menschen areligiös. Ein grosser Teil unserer Freunde sucht Entspannung im Yoga, fährt in den Ferien nach Bhutan oder Thailand in ein buddhistisches Kloster, Meditationskurse boomen, in jedem Einrichtungshaus steht auch noch eine Buddhafigur. Wir haben bereits neue Altäre gebaut. Wir sollten auch als Gesellschaft uns nicht mehr gegen Religion als solches wehren, sondern endlich in ein Gespräch eintreten zwischen den Religionen. Warum glaubst du? Warum glaubst du, was du glaubst? Und stopp: Was glaubst du denn überhaupt? Ein entspanntes Gespräch unter Freunden, Nachbarn und Kollegen würde uns hier schon einen riesengrossen Schritt weiterbringen.
Versuch’s und schreib deine Erfahrung damit! Ich bin gespannt.
Elke Pfitzer