Eine Frage der Mentalität
Zur Anziehungskraft der Stadt
Spätestens seit der großen Landflucht im 19. Jahrhundert, der Industriellen Revolution und dem Elend der Arbeiter betrachten wir Großstädte eher skeptisch. Wir verbinden damit Anonymität und Einsamkeit als auch Verschmutzung und Enge. In der Masse der Menschen lässt sich zuweilen sehr bindungslos ein- und untertauchen.
Im 21. Jahrhundert scheinen wir uns der weltweiten Urbanisierung nicht erwehren zu können. Statistiken sagen, dass es bis 2035 weltweit ungefähr 50 Megacities mit über 10 Millionen Einwohnern geben wird. Schon im Moment lebt jeder achte Erdbewohner in solch einer Stadt. Städte stehen für Fortschritt und neue Ideen. Es kommt auf den eigenen Blickwinkel an – und vielleicht auch ein wenig, zu welcher Generation wir gehören. In unseren Breitengraden bestehen die jungen Städter oftmals aus sogenannten Bildungsnomaden, die vor kurzem aus dem Elternhaus ausgezogen, das selbständige Leben erproben und auskosten. Tatsächlich entstehen dort neue Ideen, wo ein offener Diskurs unter jungen Menschen gefördert wird. Wie wollen wir in 20 Jahren leben? Lohnt es, dass wir uns dafür einsetzen und für dieses Ziel arbeiten?
Allerdings setzt dann nach Ausbildung und Studium ein Gegentrend ein: die Städter ziehen aufs Land. Ob ganz real oder nur mental spielt keine Rolle. Offensichtich sind wir als Menschen auf Dauer nicht für das hohe Tempo und die Quirrlichkeit der Stadt gemacht. Bald nach dem 30. Geburtstag setzt die Sehnsucht nach Beschaulichkeit ein, nicht nur um den eigenen Kindern eine gewisse Naturverbundenheit zu vermitteln. Es ist der Vorteil unseres Jahrhunderts, dass wir uns nicht für das eine oder das andere entscheiden müssen.
Das reale Wohnen auf dem Land oder in der Kleinstadt wird durch unsere erhöhte Mobilität und das Internet ermöglicht. Wir verpassen nicht die neuesten Trends des urbanen Umfelds. Wir können uns jederzeit entscheiden, uns in die Masse eines Festivals oder Konzerts zu begeben.
Auf der anderen Seite gestalten die Städter ihren Lebensraum mit Holz und „Urban Gardening“ auf dem Balkon. Die Architektur macht neue gemeinschaftliche Wohnformen möglich. Ist die eigene Wohnung zu klein, kann ein Wohnzimmer oder sogar eine Küche gemietet werden, um Freunde einzuladen. In manchen neuen Häusern ist der Gemeinschaftsraum komplett ausgerüstet, um regelmäßig gemeinsam zu essen.
In der Stadt zu leben ist heutzutage keine Frage des Ortes, sondern eine Frage der Mentalität. Genauso definiert sich ländliches Leben mit Beschaulichkeit, Geborgenheit und Gemeinschaft. Das gibt uns enorme Freiheiten, den eigenen Lebensstil zu wählen. Allerdings ist zu hoffen, dass nicht alle realen Stadtbewohner aufs Land ziehen. Denn, wer immer aus einem anderen Land kommt, wird sich zuerst in einer Stadt niederlassen, um soziale Kontakte zu knüpfen. Hoffen wir, dass diese Fremden dann auch noch ein paar „von uns“ antreffen, die sie in dieser anderen Kultur integrieren.
Bleiben wir mental flexibel und leben mit der Offenheit eines Städters und der Bodenständigkeit eines „Dörflers“ – egal wo in der Welt.
Herzlichst,
Elke Pfitzer