Im Namen der Mitmenschlichkeit (Teil 2)
Der kleine Unterschied der Kulturen
Es wurde beinahe ein universales Wort: Mitmenschlichkeit. Religiöse und säkular geprägte Menschen streben sie an. Ohne sie kann kein Miteinander der Gesellschaft stattfinden und damit auch kein relativer Friede herrschen. Im ersten Teil des Blogbeitrags habe ich versucht die Brücke zur asiatischen Vorstellung von Mitmenschlichkeit zu schlagen. Dazu gibt es tatsächlich noch weitere Aspekte.
Alle wichtigen chinesischen Philosophen haben sich mit dem Begriff „ren“ befasst: Beim einen (Han Fei) heisst es, die anderen aus innerstem Herzen mit Freude zu lieben, beim anderen (Mengzi) wird das spontane Mitgefühl beschreiben, das man beim unmittelbaren Miterleben des Leidens anderer Wesen empfindet.
Neben der Selbstüberwindung und dem anständigen Verhalten besteht die „Mitmenschlichkeit“ des Konfuzius insbesondere aus der „Menschenliebe“. Dieser Begriff „ai ren“ wird nicht näher ausgeführt, aber Konfuzius beschreibt verschiedene Wege, wie man die Menschen lieben kann. Zunächst, wenn man selbstlos handelt:
„Ren heißt: Wenn eine Schwierigkeit auftaucht, als erster hervorzutreten; wenn Nutzen zu ziehen ist, als erster zurückzutreten.“ (Lunyu 6.20) Es ist dann vorhanden, wenn man anderen zur Etablierung verhilft. Zu einem Schüler sagt er: „Helfe auch anderen, sich zu festigen, wie Du dich selbst zu festigen suchst. Helfe auch anderen, erfolgreich zu sein, wie Du erfolgreich zu werden suchst. Es ist wohl eine Methode zur Praktizierung von ren, wenn man am eigenen Herz die Herzen der anderen messen und dementsprechend handeln kann.“ (Lunyu 6.28)
Damit wird bei Konfuzius eine Wechselseitigkeit angedeutet: Wie ich dir, so du mir! Oder: Wie du mir, so ich dir! Allerdings stehen sich diese zwei Personen nie gleichwertig gegenüber. Vielmehr gibt es beim konfuzianischen Austausch einen aktiv Handelnden und einen passiv Betroffenen. Dies zu praktizieren setzt aber voraus, dass der Handelnde die Fähigkeit besitzt, sich in den Betroffenen hineinzuversetzen und sich dementsprechend zu verhalten.
Im Gegensatz zur Goldenen Regel im Neuen Testament handelt es sich im Konfuzianismus um eine negative Formulierung: „Was man selbst nicht wünscht, das tue man auch anderen nicht an.“ Es scheint sich dabei herauszukristallisieren, dass die christliche Goldene Regel ein gewisses Prinzip der Gegenseitigkeit im positiven Sinne beinhaltet.
In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Unterschied zu nennen. Während im Westen Menschenliebe einfach verschenkt wird, ohne etwas zurück zu erwarten, stellt man in ganz Asien fest, dass dem nicht so ist. Liebe und Beziehung beruht immer auf Wechselseitigkeit. Ich kann davon ausgehen, dass wenn mir jemand einen Gefallen tun möchte, er sicherlich einen Hintergedanken hat, was ich danach für ihn tun könnte. Bedingungslose Liebe muss man suchen. Beziehungen sind gerade im Konfuzianismus in festen Rollen definiert: Vater – Sohn, Ehemann – Ehefrau, älterer Bruder – jüngerer Bruder, Herrscher – Untertan, Freund – Freund. Diese Beziehungspaare prägen bis heute das gesellschaftliche Leben damit der Einzelne weiss, wie er sich zu verhalten hat. Liebe ist eine Verpflichtung, seine Rolle einzunehmen. Vielleicht fällt es uns deshalb manchmal etwas schwerer, einen Zugang zur asiatischen Kultur aufzubauen. Es ist uns fremd, Beziehungen wie ein Buchhalter zu leben. Leben und lieben heisst doch in Europa immer noch: einen Mehrwert herzustellen! Das wird in den nächsten Jahren eine der grössten Herausforderungen sein, wenn es darum geht, asiatische Flüchtlinge in Europa zu integrieren.
Packen wir’s an!
Elke Pfitzer